„Könntest du nicht noch ein bisschen besser funktionieren?“

Ich halte ein hellgrünes Plakat in den Händen. Darauf steht von Hand geschrieben: "Different people, different colours, so many gifts"

Links vom Text sind 3 Vögel in 3 Farben gedruckt.

Foto: Martin Fankhauser

Diese Woche bin ich auf einen Blogbeitrag von Barbara Zimmermann bei Kaiserinnenreich aufmerksam geworden. Sie ist Mutter einer behinderten Tochter und schreibt über den Optimierungsdruck, den sie auf ihre Tochter einprasseln sieht.

Sie schreibt: „Manchmal habe ich den Eindruck, dass von ihnen erwartet wird, dass sie sich ständig anstrengen sollen, um zu versuchen, jemand anders zu sein, als sie eigentlich sind. Solange sie dieses Ziel nicht erreichen – was nie der Fall wird -, oder zumindest der Welt nicht zeigen, wie sehr sie sich bemühen, „besser“ zu werden, wird ihr Verhalten und ihren Körper immer bewertet werden. Und die endlose Erwartung nicht genug gesättigt zu haben, wird immer da im Raum stehen. Das ist Optimierungsdruck von Geburt an, je nach dem seit wann das Kind behindert ist!“

Barbara Zimmermann spricht mir damit aus dem Herzen. Es ist ein Thema, das mich schon lange umtreibt. Ich sehe Leistungs- und Optimierungsdruck generell kritisch. Für Menschen mit Behinderung oder in Krisen ist er aber kein neues Phänomen.

Ich habe mein ganzes Leben lang noch nie normal funktioniert. Ich habe noch nie 3 Monate am Stück ohne Krankschreibung funktioniert seit ich 6 Jahre alt bin. Mir wurden in der Schule dafür keine Vorwürfe gemacht, aber man hat sich teilweise doch gewundert ab der Menge meiner Abwesenheiten. Ganz normal ist das ja nicht, oder? Später mit verschlechternder Gesundheit kam aber der Rechtfertigungsdruck. Und dieser nicht zu knapp. Warum funktioniere ich nicht? Lässt sich das begründen? Wer sagt was? Und könnte ich nicht doch wieder ein bisschen mehr leisten? Ich habe in meinem Leben x Zielvereinbarungen unterzeichnet. Alle mit dem Ziel wieder funktionsfähiger zu werden.

Ich musste damit leben lernen, dass verschiedene Fachleute total unterschiedliche Meinungen zu meinem Gesundheitszustand haben. Es auch Fachleute gibt, die mich als 100% arbeitsfähig einstufen, während ich im Pflegeheim bin und mich gerade knapp 15 Meter zum Esstisch bewegen kann.

In Situationen wo es mir schlecht geht, ist der Rechtfertigungsdruck besonders schwer zu ertragen. Aber er ist auch in Situationen, wo ich stabil bin nicht besonders zielführend. Denn wenn ich meine Energie nicht präventiv gut manage, werde ich in der nächsten Krise sein. Ich bin also auch in Zeiten, wo ich in Teilzeit arbeiten kann und verhältnismässig gut funktioniere, auf eine gute und korrekte Einschätzung angewiesen. Oder zugespitzt formuliert: Ich bleibe nur arbeitsfähig, wenn das Ausmass meiner Erkrankung korrekt festgestellt ist. Denn wenn ich mein Energiekonto überziehen muss, erleide ich Arbeitsausfälle und Verschlechterungen.

Was für mich nach vielen Jahren, mit vielen Krisenerfahrungen, logisch tönt, ist es aber nicht für jeden. Denn wenn ich auf 40 oder 50% gut funktioniere, warum dann nicht auf 60 oder 80%?

Ich bin sehr müde geworden, mich zu rechtfertigen oder zu erklären. In wähle sehr selektiv, wem ich was erzähle über meine Gesundheit. Dass ich rein äusserlich gesund wirke, täuscht dann den einen oder die andere.

Dass sich in meinem Leben viel ums Thema „funktionsfähiger werden“ dreht, hat sich aber auch tief in meine Seele gebrannt. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich meine Grenzen selbst einigermassen korrekt einschätzen konnte. Ich hatte früh internalisiert, dass ich immer probieren muss normal zu funktionieren. Das heisst 8h am Stück zu arbeiten, Krankheitssymptome nicht ernst zu nehmen und möglichst so zu tun, als hätte ich keine Einschränkungen. In meinem Unterbewusstsein war tief verankert, dass alles drunter einfach nicht reicht oder ein Störfaktor in den Abläufen der Gesellschaft ist. Ich hätte gerne mehr und früher Hilfe bei der Akzeptanz meiner Einschränkungen gehabt.

Lange Zeit habe ich gedacht, dass meine Erfahrungen eng mit meiner Diagnose in Verbindung stehen (ME/CFS). Bestimmt ist das auch zu einem guten Grad so. Aber ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass dieser Druck auf vielen Menschen lastet. Dass auch Menschen mit anderen Behinderungsformen oder mit psychischen Erschütterungserfahrungen ähnliche Erfahrungen machen. Einfach etwas anders gelagert.

Wir leben aus meiner Sicht auch generell in einer Gesellschaft, die sich darauf spezialisiert hat, Grenzen auszuloten. Wir feiern, wenn Menschen im Eiltempo auf den Eiger rennen. Aber wir lernen wenig darüber, wie wir eigene Grenzen erkennen, kommunizieren und respektieren. Ich spüre viel Leistungsdruck.

Simone Leuenberger ist Grossratsmitglied im Kanton Bern, Lehrerin für Wirtschaft und Recht und hat eine Muskelerkrankung. Sie hat mit der Zeitung „Der Bund“ vor der Behindertensession darüber gesprochen, wann das Ziel der Inklusion erreicht sei und sagt in dem Zeitungsartikel: «Wenn man die Behinderung als Lebensform ansieht» Sie erklärt: «Oft will man uns flicken, uns zum Beispiel mit technischen Mitteln das aufrechte Gehen ermöglichen.» Die Gesellschaft bemühe sich, die Menschen dem System anzupassen. Für Leuenberger ist aber nur der umgekehrte Weg erfolgreich: wenn man das System den Menschen anpasse. «Es wäre einfacher und günstiger, das System so zu gestalten, dass alle hineinpassen.»

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