Eine Alltagsutopie für Menschen mit ME/CFS

Ein persönlicher Text darüber, welche Form von Gesellschaft und Netzwerk ich mir in Zukunft für Menschen mit ME/CFS wünsche. Das allermeiste davon ist kein Hexenwerk und einige Punkte davon sind in angloamerikanischen Ländern bereits Realität.

Vor ein paar Wochen wurde mir die Frage gestellt, was ich für Wünsche und Träume, bzw. für eine Utopie für Menschen mit ME/CFS habe. In der Tat schenkten mir die letzten 20 Jahren genug Gelegenheit darüber nachzudenken. Fast unablässig habe ich mir in diesen Jahren die Fragen gestellt: Wie schaut ein gutes Leben mit ME/CFS aus? Generell, aber auch sehr konkret für mich? Ich bin seit meinem 18 Lebensjahr erkrankt, war auch zuvor schon gesundheitlich angeschlagen. Heute bin ich über 40 und habe in diesen Jahren alles zwischen Aufenthalten im Spital und Pflegeheim und Teilzeitarbeitsfähigkeit im höheren Prozentbereich erlebt. Und dazwischen nicht wenige Turbulenzen. Ich habe Jahre erlebt, wo ich die gefühlte Gewissheit hatte, mit der richtigen Herangehensweise/Training/Behandlung und viel Geduld auf jeden Fall wieder gesund oder zumindest einigermassen funktionsfähig zu werden und Jahre, wo ich nicht glaubte, je wieder ausserhalb eines Pflegeheimes leben zu können. Ich habe meine Grenzen erlebt, habe sie ausgelotet, habe Hoffnung, aber auch viele gesundheitliche Riesen-Crashs und Verzweiflung erlebt.

Wenn ich über das Wort Utopie nachdenke, dann träume ich mittlerweile nicht mehr von vollständiger Gesundheit. Nicht, weil ich sie mir nicht wünsche, sondern weil das nach meiner Erfahrung nichts ist, was ich vom Leben verlangen kann. Vielleicht wird irgendwann die Ursache von ME/CFS entdeckt und behandelbar sein. Vielleicht ist das in 2, vielleicht aber auch erst in 100 Jahren der Fall, vielleicht auch nie. Ich bin in den letzten 20 Jahren pragmatischer geworden und wünsche mir eigentlich nur noch jene Dinge, die naheliegend und machbar sind. Wobei mir mittlerweile auch klar ist, dass in unserem Gesundheitssystem nichts mehr „einfach“ machbar ist und fast jede Änderung eines systemischen Ablaufes viel Aufwand mit sich bringt.

Ich habe in den letzten 20 Jahren immer wieder Menschen mit gutem Willen getroffen. Mitmenschen, Ärzte, Pflegefachleute, Ergotherapeut:innen, Sozialpädagog:innen und Anwält:innen. Ich weiss, dass guter Wille einen Unterschied macht und dass durch viele solcher Menschen für Betroffene ein spürbarer Unterschied an Lebensqualität erreicht werden kann. Wenn ich nun meine Utopie beschreibe, dann stelle ich mir einfach vor, dass dieser gute Wille, der aktuell bei Einzelnen vorhanden ist, ganz viele andere angesteckt hat. Und sich deshalb einiges im System verändert hat. Ich wache eines Morgens auf und stelle fest, dass sich 10 Punkte für Menschen mit ME/CFS verändert haben.

  1. ME/CFS gehört ins Ausbildungscurriculum von Fachpersonen der Medizin, Physio- und Ergotherapie, der Sozialpädagogik, Psychotherapie und last but not least der Versicherungsmedizin. Alle kennen die Diagnosekriterien, die verschiedenen Schweregrade und wissen auch, dass es sehr schwer Erkrankte unter den Betroffenen gibt, die nochmals ganz besondere Bedürfnisse haben. Es ist deshalb normal geworden, dass Betroffene rechtzeitig diagnostiziert und aufgeklärt werden. Die Anzahl der schweren Verläufe hat sich dank rechtzeitiger Diagnose und entsprechendem Energiemanagement verringert.
  • 2. Es gibt in der Schweiz eine Akutabteilung in einem Spital, die auf ME/CFS spezialisiert ist und auch schwere Fälle aufnehmen kann. Sie wurde erst vor kurzem eröffnet. Betroffene müssen nicht mehr ewig lange auf einen Rehaplatz warten und sie können auch stationär aufgenommen werden, wenn sie zu krank sind für eine Reha. Diese Abteilung hat auch eine gut ausgestattete Abteilung mit Sozialarbeiter:innen welche die Fälle auch nach Austritt weiterhin als Case Manager:innen betreuen können und so für gute Übergänge zwischen Krankenhaus und ambulanter Versorung mitwirken können.
  • 3. Betroffene erhalten überall Zugang zu fachärztlicher Hilfe. Es gibt in jedem Kanton eine Fatigue-Sprechstunde, die auch schwer Erkrankten zugänglich ist. Menschen, die zu krank sind um Arztbesuche zu bewältigen, davon gibt es bei ME/CFS immer wieder, können Hausbesuche in Anspruch nehmen. Sie können darauf vertrauen, dass diese Fachpersonen ME/CFS kennen und sie hilfreich in allen grundlegenden Lebensfragen beraten. Ich denke da besonders an die Bereiche Pacing, Ernährung, Schlaf und Schmerz.
  • 4. Junge Betroffene erhalten besondere Unterstützung. Denn sie haben besondere Hürden in ihrer Entwicklung zu bewältigen. Sie wissen, dass sie in eine Gesellschaft hineinwachsen, die ihnen wohlgesonnen ist und wo sie auch ausserhalb ihres Elternhauses die nötige Unterstützung erhalten. Es gibt ganze Netzwerke, welche junge Menschen mit ME/CFS mit verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten vernetzen und sie beim Erwachsen-werden begleiten.
  • 5. ME/CFS hat in der Medizin und Forschung den Stellenwert wie jede andere relevante Erkrankung auch. Da ME/CFS nicht selten ist, fliesst mittlerweile ein angemessener Teil des Forschungsaufwandes in Forschungsprojekte. Die biologischen Hintergründe von ME/CFS werden dadurch langsam aufgedeckt.
  • 6. Die Zeiten wo „schwarze Psychologie“ mit ME/CFS Erkrankten betrieben wurde, liegen weit zurück. Dass es früher Menschen und Fachleute gab, welche die Symptome komplett verneinten, direkt auf die Persönlichkeit von Betroffenen zurückführten oder ihnen sogar Simulation unterstellten, mutet befremdend an.
  • 7. ME/CFS Betroffene erhalten angemessene lebenspraktische und finanzielle Unterstützung um ihren Alltag zu bewältigen. Sie haben Zugang zu Assistenz, insbesondere zu genügend Unterstützung im Haushalt. Mindestens eine Patient:innenorganisation für ME/CFS hat mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen einen Leistungsvertrag nach Art. 74 IVG und kann dank diesem Leistungsvertrag ein Beratungsangebot und andere Leistungen für Betroffene sicherstellen.
  • 8. Die inklusive Gesellschaft ist Realität geworden. Menschen mit einer Behinderung können ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechend leben, Ausbildungen durchlaufen und werden als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft betrachtet. Menschen mit ME/CFS sind Teil dieser inklusiven Gesellschaft. Soeben ist eine Person mit ME/CFS in den Nationalrat gewählt worden.
  • 9. Das Bundesamt für Gesundheit hat zwar spät, aber noch gerade rechtzeitig erkannt, dass ME/CFS für die ganze Bevölkerung ein relevantes Thema ist. Es gibt daher auf nationaler Ebene eine Kampagne zum Thema, welche informiert und sensibilisiert. Das Wissen zu dem Thema wächst in der ganzen Bevölkerung.
  • 10. Ganz persönlich hoffe ich, dass ich an diesem wundersamen Morgen weiterhin Menschen um mich habe, die mit mir durch dick und dünn gehen und die meinen Wert als Arbeitnehmerin, Kollegin, Freundin, Partnerin oder Angehörige nicht einzig von meiner Leistungsfähigkeit abhängig machen.

Das wunderbare Bild zu diesem Beitrag stammt von Benutzer „Stergo“ auf Pixabay.

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